Frankfurt, 25. Oktober 2017. Eine wachsende Anzahl von Informationsangeboten fördert nicht automatisch den Meinungsbildungsprozess, der wesentlich komplexer ist, als die öffentliche Diskussion vielfach annimmt. Gerade die politische Kommunikation fokussiert zu stark auf die Medien als meinungsbildende Kraft und vernachlässigt den gravierenden Einfluss von Sozialisation und persönlichem Umfeld. Dies sind einige der Kernergebnisse der umfangreichen Grundlagenstudie „Medienvielfalt = Meinungsvielfalt? Historische, systematische und digitale Perspektiven auf Meinungsbildung und öffentliche Meinung“, die die Organisation der Mediaagenturen (OMG) mit dem ZDF Werbefernsehen als Partner in Auftrag gegeben hat. Im Rahmen dieser Studie analysieren die Humboldt Universität Berlin und die Universität der Künste Berlin die Zusammenhänge von Medien- und Meinungsvielfalt sowie die Veränderung der Meinungsbildungsprozesse in den vergangenen Jahren und unter dem Einfluss der Digitalisierung.
In unserer Gesellschaft ändert sich der Konsum von Medien, Informationen und Werbung fundamental. Das wirkt sich grundlegend auf die Geschäftsmodelle der Medien- und Werbewirtschaft aus. Diese Entwicklung wird durch eine öffentliche Diskussion begleitet, die zunehmend auf Fragen der Refinanzierbarkeit von Informationsangeboten fokussiert. So hat Julia Jäkel aktuell von einer „Krise der demokratischen Öffentlichkeit“ gesprochen und die Werbewirtschaft im Sinne einer „Corporate Media Responsibility“ dazu aufgerufen, ihren Beitrag für Pressefreiheit, Qualitätsjournalismus und freie Medien zu leisten.
Nahezu alle Positionen basieren auf der Annahme, dass durch Medienvielfalt auch Meinungsvielfalt gewährleistet wird. Dies wissenschaftlich zu hinterfragen, ist Thema der vorliegenden Studie. Wie bildet sich der Bürger nicht nur im digitalen Zeitalter seine Meinung? Welchen Einfluss hat die Anzahl oder Qualität der Medienangebote darauf?
OMG-Geschäftsführer Klaus-Peter Schulz. „Wir haben uns daher entschieden, eine Studie in Auftrag zu geben, die sich mit dem Zusammenhang von Medien- und Meinungsvielfalt sowohl aus historischer, systematischer Sicht und unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen beschäftigt. Wir wollen damit einen substanziellen Beitrag zu der aktuellen Debatte mit Politik, Aufsichtsbehörden und Werbewirtschaft leisten, der im besten Falle dazu beiträgt, ein besseres Verständnis zu den Zusammenhängen der gegenwärtigen Entwicklungen zu bekommen.“
Schon beim Start des Projektes ist das Thema auf großes Interesse gestoßen, weshalb das ZDF Werbefernsehen als Partner gewonnen werden konnte.
Hans-Joachim Strauch, Geschäftsführer ZDF Werbefernsehen: „Wir haben uns als ZDF Werbefernsehen dazu entschieden, die vorliegende Studie im Auftrag der OMG zu unterstützen. Als Vermarkter qualitativ hochwertiger Werbeumfelder befürworten wir den Ansatz einer wissenschaftlichen Fundierung dieser Thematik. Mediaagenturen und werbetreibende Wirtschaft als unsere wichtigsten Marktpartner und wir haben ein großes Interesse daran zu verstehen, welchen Einfluss Veränderungen durch die Digitalisierung auf die Qualität von Werbeumfeldern haben. Daraus ergeben sich unmittelbar Veränderungen in den Zielgruppen, was für Werbetreibende und Mediaagenturen von großer Bedeutung ist.“
Auf den Medientagen München wurde nun der erste kommunikationswissenschaftliche Teil der Studie vorgestellt. Neben einer historischen Betrachtung der Entwicklung der Medien- und Meinungsvielfalt wurden die Interdependenzen von Information, Kommunikation und Meinung systematisch analysiert. Dabei kamen die Autoren der Studie Hans-Jürgen Arlt und Jürgen Schulz (Universität der Künste) sowie Wolfgang Mühl-Benninghaus (Humbold Universität) zu dem Schluss: „Das Thema Medien- und Meinungsvielfalt gehört in die journalistische Qualitätsdebatte.“ In einem zweiten Studienteil soll unter Leitung von Peter Kenning von der Heinrich Heine Universität Düsseldorf die empirische Überprüfung der Fragestellung erfolgen.
Die wichtigsten Ergebnisse:
Meinungsvielfalt gehört zum Leben in einer modernen Gesellschaft – in westlichen Industrieländern seit 200 Jahren. Die Ausdifferenzierung der Lebensumstände, Subkulturen und individualisierte Lebenswege, spezialisierte Arbeitstätigkeiten, ungleiche Konsumpraktiken und große Wissensunterschiede machen Meinungsverschiedenheiten zur allgegenwärtigen Normalität. Das bedeutet: Meinungsvielfalt stellt sich ein, dazu bedarf es nicht erst der Massenmedien.
Indes nimmt die Politik die Medien, genauer gesagt den Journalismus, als meinungsbildende Kraft wahr – verbunden mit der Erwartung, Wichtiges und Unwichtiges auseinander zu halten, also bevorzugt über solche Meinungen zu berichten, die (im politischen Entscheidungsprozess) Gewicht haben. Über einen Mangel an Meinungsvielfalt werden sich deshalb in erster Linie die politischen Akteure beschweren, die mit ihren Wahlergebnissen nicht zufrieden sind. Da es immer Wahlverlierer gibt, bleibt Meinungsvielfalt ein Dauerproblem. „Weil die Medien als primäre Meinungsquelle (über)bewertet werden, drückt sich der Wunsch nach Meinungsvielfalt als Forderung nach Medienvielfalt aus“, analysiert Professor Hans-Jürgen Arlt.
Bei der Betrachtung der Meinungsbildungsprozesse wurde bislang zu wenig über das Zusammenspiel zwischen den direkten Erfahrungen unserer persönlichen Lebenswelt und den massenmedialen Mitteilungen geforscht. Das Interesse richtete sich bisher zu einseitig auf die Wirkung durch die Medien, wobei wesentliche Parameter wie Sozialisationsprozesse und Alltagspraktiken, persönliches Erleben und der interpersonale Austausch der Arbeits- und Lebenswelt ausgeblendet bleiben. Professor Jürgen Schulz: „Die zwischenmenschliche Kommunikation wird traditionell dramatisch unterschätzt und ist empirisch auch erheblich schwieriger zu erforschen.“ Ob aber aus einer Mitteilung eine Information wird und, wenn ja, welche, das entscheidet sich letztendlich auf der Seite der Adressaten und nicht des Absenders.
Über allen Strukturwandel hinweg weist die moderne Öffentlichkeit vier Programme auf: Werbung, PR (auch allgemein Öffentlichkeitsarbeit oder politisch Propaganda genannt), Unterhaltung und Journalismus. Die Medienpolitik, für die Meinungsvielfalt ein hoher, unbestrittener Wert ist, hat überraschend wenig Probleme damit, dass die Anteile von Werbung, PR und Unterhaltung an der öffentlichen Kommunikation kontinuierlich steigen und mit der Digitalisierung noch einmal einen Wachstumsschub erleben. Mit der Digitalisierung hat sich ein anderer Journalismus herausgebildet, der gekennzeichnet ist durch die Interaktion mit dem Publikum, Veröffentlichungen in Echtzeit und steigende Transparenz.
Aber es entwickelt sich auch etwas anderes als Journalismus: Die neue Aufmerksamkeitsökonomie beschäftigt neben Journalisten vor allem Animateure, die jegliche journalistische Distanz missen lassen, stattdessen bewerten sie, bejubeln und beschimpfen, moralisieren und protestieren. Das Ziel heißt: schnelle Reichweite. Aber auch diese Angebote wirken meinungsbildend. Bleibt die Frage: Welche Maßstäbe gelten für diese Ökonomie des Infotainments?
Zeitgleich brechen journalistische Geschäftsmodelle ein und werden es in den Zeiten der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie zunehmend schwerer haben, denn die Medien stehen ökonomisch in harter Konkurrenz zu den Intermediären. Dabei kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass „echter“ Journalismus durchaus Meinungsvielfalt bietet, sich aber weder in der Vergangenheit noch heute aus eigener Kraft finanzieren kann, sondern schon immer über zusätzliche Geschäftsmodelle wie Werbung quersubventioniert werden musste.
Das wirft die wichtige gesellschaftliche Frage auf, in welchem Umfang und auf Basis welcher Finanzierungsmodelle eine zukunftsfähige Existenz unserer Qualitätsmedien sichergestellt werden kann. Dazu Professor Wolfgang Mühl-Benninghaus: „Es kann nicht die Aufgabe der Werbungtreibenden sein, den Journalismus zu retten. Das müssen die Verlage schon selbst hinbekommen.“
Eine Zusammenfassung der Studie in 7 Thesen sowie die komplette Studie „Medienvielfalt = Meinungsvielfalt?“ kann über die OMG-Website bezogen werden.
Nicole Hein
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